Was ist Spiritismus und was Offenbart er?

Folgerung aus dem Spiritismus

Angesichts dieser Ungewissheit, die den Enthüllungen der Geister anhaftet, dürfte der eine oder andere vielleicht nicht ohne anscheinende Berechtigung die Frage aufwerfen: Wozu nützt das Studium des Spiritismus?

Erstens liefert der Spiritismus den tatsächlichen Beweis vom Vorhandensein der geistigen Welt.  Da diese geistige Welt aus den Seelen derer besteht, die einst leiblich gelebt haben, so ergibt sich hieraus weiter die Existenz der Seele und ihr persönlicher Fortbestand nach dem Tode.

Die sich kundgebenden Seelen wissen uns von ihren Freuden oder Leiden zu berichten, je nach  der Art und Weise, wie sie das Erdenleben ausgenutzt haben.  Hieraus ergibt sich der Beweis von den zukünftigen Strafen und Belohnungen. Indem die Geister ihren Zustand und ihre Lage schildern, berichtigen sie falsche Vorstellungen, die man sich über das Jenseits und namentlich über Beschaffenheit und Dauer der Strafen gemacht hat.

Indem somit das zukünftige Leben aus dem Status einer schwankenden, unsicheren Theorie in den Status der ausgemachten Tatsache rückt, ergibt sich daraus die Nötigung, während des gegenwärtigen, kurz zugemessenen Lebens für das zukünftige unbegrenzte Leben zu arbeiten.

Nehmen wir einmal an, ein junger Mensch von zwanzig Jahren habe die Gewissheit, mit fünfundzwanzig zu sterben.  Was wird er während dieser fünf Jahre tun?  Wird er für seine Zukunft arbeiten?  Gewiss nicht; er wird so weit wie möglich das Leben zu genießen suchen, er würde es als Selbstbetrug ansehen, wenn er sich zwecklose Entbehrung und Ermüdung auferlegen wollte.  Hat er dagegen die Gewissheit, achtzig Jahre alt zu werden, wird er ganz anders handeln: denn es wird ihm die Notwendigkeit einleuchten, einige Augenblicke der gegenwärtigen Ruhe zu opfern, um sich auf lange Jahre hinaus die Ruhe zu sichern.  Ganz so steht es mit dem, für den das zukünftige Leben eine ausgemachte Gewissheit ist.

Der Zweifel bezüglich eines Fortbestandes nach dem Tode führt naturgemäß dahin, alles den Freuden der Gegenwart zu opfern; daher die maßlose Wichtigkeit, die den materiellen Gütern beigemessen wird. Der letztere Umstand weckt Begehrlichkeit, Neid, Eifersucht des minder vom Glück Bedachten gegen den reich Ausgestatteten.  Von der Begehrlichkeit zu dem Wunsch, sich das Besitztum des Nächsten um jeden Preis zu verschaffen, ist nur ein Schritt.  Daher Hass, Streit, Rechtsstreitigkeiten und Kriege, kurz die gesamte Gefolgschaft des Egoismus.  Beim Zweifel an die Zukunft erblickt der von Kummer und Unglück belastete Mensch nur im Tode das Endziel seiner Leiden.  Er, der nichts mehr zu hoffen hat, findet es logisch, seine Leiden zu kürzen - er wird zum Selbstmörder.

Ohne Hoffnung auf eine Zukunft wird der Mensch von den Enttäuschungen des Erdenlebens schwer getroffen und der Verzweiflung überantwortet.  Die heftigen, auf ihn einstürmenden Erschütterungen stören das ruhige Weiterfunktionieren seines Denkorgans - es stellt sich Geisteskrankheit ein.  Ohne Hoffnung auf eine Zukunft ist das gegenwärtige Leben für den Menschen die Hauptsache, auf die er alles bezieht.  Darum will er um jeden Preis nicht nur materielle Güter besitzen, sondern auch Ehren genießen.  Sein ganzes Trachten richtet sich darauf, zu glänzen, sich über anderer zu erheben und seine Nebenmenschen durch Prunk und Rang in den Schatten zu stellen.  Daher der maßlose Ehrgeiz, das Haschen nach Titeln und sonstigen Spielereien der Eitelkeit, für die er selbst seine persönliche Ehre zu opfern imstande ist, weil es eben etwas Höheres für ihn nicht gibt.

Dagegen veranlasst die Gewissheit eines zukünftigen Lebens und seiner Folgen einen vollständigen Umschwung in den Ideen und zeigt die Dinge in einem ganz anderen Licht.  Der Vorhang ist gehoben, der uns einen endlosen, strahlenden Horizont enthüllt.  Vor der Unendlichkeit, Großartigkeit des jenseitigen Lebens schwindet das Erdenleben wie die Sekunde vor den Jahrhunderten, wie das Sandkörnchen vor dem Berg.  Wie klein, wie erbärmlich scheint jetzt dies alles, ja man staunt selbst, wie man ehedem den Eintagskindereien hat solchen Wert beilegen können.  Daher in den Begebenheiten des Lebens eine Ruhe, ein stilles Genügen, das schon ein Glück zu nennen ist gegenüber jenem Drängen und Treiben, jenen Quälereien und Hetzereien, jenem Ärger und jenen Empfindlichkeiten bei der Jagd nach dem vermeintlichen Glück.  Daher bei den Wechselfällen und Enttäuschungen des gewöhnlichen Lebens eine Gleichgültigkeit, die der Verzweiflung keine Eingangspforte offen lässt, die zahlreiche Fälle von Geisteskrankheit beseitigt und den Gedanken an Selbstmord machtvoll verscheucht.  Die Gewissheit einer Zukunft lehrt den Menschen warten und verzichten, der Zweifel nimmt ihm seine Geduld, weil er nur von der Gegenwart etwas erwartet. Da das Beispiel derer, die ehedem im Leibe wandelten, zeigt, dass die Summe des zukünftigen Glückes im Verhältnis steht zu der Summe der Laster und der schlechten Handlungen, so stellt sich bei allen denen, die von dieser Wahrheit durch­drungen sind, ein ganz natürliches Streben ein, rechtschaffen zu handeln und das Böse zu meiden.  Wenn einmal die Mehrheit der Menschen von diesem Gedanken durchdrungen sein, sie solche Grundsätze bekennen und das Gute üben wird, dann wird die weitere Folge sich ergeben, dass schon hier unten das Gute über das Böse den Sieg davonträgt, dass die Menschen nicht mehr auf gegenseitige Schädigung ausgehen, dass sie ihre gesellschaftlichen Einrichtungen zum Nutzen der Gesamtheit und nicht Einzelner regeln, mit einem Wort: sie werden den Satz begreifen, as Gesetz der allgemeinen Menschenliebe, wie Christus es gelehrt, ist die Quelle des Glücks in dieser Welt und sie werden auf dieses Gesetz der Nächstenliebe ihre bürgerliche Gesetzgebung begründen.

Weiter aber ist die Konstatierung einer uns umgebenden geistigen Welt und ihres Einflusses auf die physische Welt der Schlüssel zu einer Menge bisher unbegriffener Erscheinungen auf dem Gebiet des physischen wie moralischen Geschehens.

Wenn die Wissenschaft einmal von dieser neuentdeckten Kraft allseitig Notiz nehmen wird, dann wird dieselbe auch zur Richtigstellung einer großen Menge von Irrtümern gelangen, die alle auf dem materialistischen Grundprinzip beruhen.  Die Kenntnis dieser neuen Kraft wird ein Hebel für den Fortschritt und ebenso wirkungskräftig sein, wie die Entdeckung jedes neuen wirksamen Stoffes es gewesen ist.  Mit Hilfe des spiritistischen Grundgesetzes wird der wissenschaftliche Horizont sich erweitern, wie dies z.B. nach Entdeckung des Gravitationsgesetzes geschehen ist.

Wenn die Gelehrten einmal von der Höhe ihres Katheders herab die Existenz der geistigen Welt und ihre Einwirkung auf die Erscheinungen des Lebens als eine nicht mehr bestrittene Tatsache verkünden werden, dann werden sie damit dem Gemüt der Jugend das Gegengift gegen die materialistischen Ideen einflößen anstatt den Samen des Zweifels in den Boden der Seele zu streuen.

Auf den höheren Schulen, den Universitäten, wird die Existenz der Seele, werden ihre Attribute je nach den verschiedenen Systemen gelehrt, aber ohne tatsächliche Beweise.  Ist es da nicht seltsam, dass jetzt, wo diese Beweise sich einfinden, sie von den selben Professoren ignoriert und als Aberglauben behandelt werden?  Sagen sie damit nicht zu ihren Schülern: „Wir lehren euch die Unsterblichkeit der Seele aber ein Beweis für sie darf nicht erbracht werden?“ Wenn ein Gelehrter über einen wissenschaftlichen Punkt eine Hypothese aufstellt, pflegt er doch eifrig nach Tatsachen zu suchen, die aus der Hypothese eine Wahrheit zu machen geeignet sind, und mit Freuden begrüßt er es, wenn er solche Tatsachen findet.  Wie kommt es nun, dass die Professoren der Philosophie, die doch pflichtgemäß ihren Schülern die Existenz der Seele beweisen sollten, verächtlich die Mittel zu einer offenkundigen Demonstration abweisen?

Nehmen wir also an, die Geister wären außerstande, uns etwas zu lehren, was wir nicht selbst schon wüssten, oder nicht von selbst uns sagen könnten, so muss der bloße Beweis von dem Vorhandensein der geistigen Welt notwendigerweise ein Umwälzung in den Ideen zur Folge haben, die wieder auf die ganze Menschenwelt nicht ohne Einfluss bleiben kann.  So bereitet der Spiritismus eine Regeneration des Menschentums vor.

Aber die Geister leisten mehr: wenn ihre Enthüllungen, um ihre Genauigkeit und Richtigkeit zu konstatieren, mit gewissen Schwierigkeiten umgeben sind und ins Detail gehende Vorsichtsmaßnahmen erfordern, ist es darum doch nicht minder wahr, dass erleuchtete Geister, so man sie nur zu fragen versteht und es ihnen gestattet ist, uns unbekannte Tatsachen enthüllen und Aufschluss zu geben vermögen und uns auf die Bahn eines rascheren Fortschritts bringen können.  Ein vollständiges und aufmerksames Studium der spiritistischen Wissenschaft ist freilich hierbei unerlässlich, um nicht die Grenzen des Möglichen zu überschreiten und sich der Gefahr auszusetzen, betrogen und getäuscht zu werden.

Der Spiritismus lehrt wenige oder keine absolut neuen Wahrheiten kraft des alten Satzes: „Nichts Neues unter der Sonne.“ Absolute Wahrheiten sind zugleich ewige Wahrheiten.  Da die Wahrheiten des Spiritismus absolute sind, d.h. auf den Naturgesetzen beruhen, sind sie zu allen Zeiten vorhanden gewesen.

So findet man denn in der Tat zu allen Zeiten die Keime, die nunmehr durch eingehenderes Studium und aufmerksamere Beobachtungen zur Entwicklung gelangt sind. Der Spiritismus hat die Geister weder entdeckt noch erfunden, ebensowenig als er die geistige Welt entdeckt hat, an welche man zu allen Zeiten geglaubt hat; wohl aber erbringt er den tatsächlichen Beweis von ihrem Vorhandensein, befreit sie von den an sie geknüpften abergläubischen Meinungen und lässt sie in ihrem wahren Licht erscheinen.  Zweifel und Unglauben verlieren damit jeden Boden. 

Aus dem Werk von Allan Kardec »Über das Wesen des Spiritismus«

Überarbeitete Neuauflage der im Verlag von Max Spohr – Leipzig erschienenen Version

ohne Jahresangabe - (wahrscheinlich 1890)- ohne Erwähnung des Übersetzers

© Lichttropfen - Verlag für altes Wissen - Rutenweg 3   −   D-37154 Northeim - ISBN  978-3-937837-07-9